Festrede zum 100. Geburtstag von Hans Jendis

 

Hans Jendis
Hans Jendis
Geboren am 4. April 1913 in Schwelm bei Wuppertal. Während der Schulzeit erste musikalische Au
sbildung (Klavier, Orgel und Violine). 1933/34 Vorbereitung des Kirchenmusikstudiums an der Kirchenmusikschule Berlin-Spandau bei Wolfgang Auler, Hugo Distler u.a. 1934-38 Kirchenmusikstudium an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik in Berlin bei Wolfgang Reimann, Fritz Heitmann, Kurt Thomas, Max Seiffert u. a. Staatliche Prüfung für Organisten und Chorleiter (A-Prüfung). Winter 1940/41 Staatliche Diplom-Prüfung für Kirchenmusik nach dreisemestrigem, aufgrund des Krieges verkürztem Aufbaustudium. 1937-39 Kirchenmusikeramt an der Kirche am Hohenzollernplatz in Berlin-Wilmersdorf. 1939-49 Kriegsdienst und russische Kriegsgefangen-schaft.1950/51 Wiederaufnahme der Tätigkeit in Berlin-Wilmersdorf. 1951-1978 Kantor an St. Jacobi in Göttingen und Orgelrevisor für den Sprengel Göttingen der Hannoverschen Landeskirche. Gestorben am 14. Mai 1985 in Göttingen.

Die Ära Hans Jendis

(Sigfried Herbst in der Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum der St. Jacobi-Kantorei Göttingen im Jahre 1991)

Mehr als ein viertel Jahrhundert Musikleben an St. Jacobi ist maßgeblich von Hans Jendis geprägt worden. Zwischen 1951 und 1978 hat er so gut wie alle großen klassischen Chorwerke aufgeführt, die das Herz eines Chorsängers erfreuen und die Ohren des Liebhabers von Kirchenmusik entzücken. Die Skala reicht von Händels „Messias" über die Passionen, die h-Moll-Messe und das Weihnachtsoratorium Bachs bis hin zu den Requien von Brahms und Verdi (Nur Beethovens „Missa solemnis" scheint zu fehlen; ihre wohl erste Aufführung in St. Jacobi soll am 28. Juni 1992 stattfinden).

Als Hans Jendis am 1. April 1951, von der Kirche am Hohenzollernplatz in Berlin-Wilmersdorf kommend, sein Amt antrat, fand er nur wenig musikalische Substanz vor, ähnlich wie seine großen Vorgänger, die sich der Chorarbeit an St. Jacobi verschrieben hatten: Hanns Lilje, der den im ersten Weltkrieg erloschenen Chor 1919 wieder ins Leben gerufen, Superintendent Kayser, der vor 100 Jahren den Chor gegründet hatte. Aber Hans Jendis hatte einen Vorteil gegenüber seinen Vorgängern: Er erhielt eine hauptamtliche Kirchenmusikerstelle, und er selbst war Diplom-Kirchenmusiker, ein überhaupt nur viermal verliehener Titel, auf den er mit einigem Stolz hielt. Man kann Hans Jendis also das Verdienst der dritten Neugründung der Jacobi-Kantorei zuschreiben, aber einer, die zu der längsten, nun vierzigjährigen ununterbrochenen musikalischen Tradition an St. Jacobi geführt hat. Hans Jendis hat dem Chor auch die Struktur gegeben, die er heute noch aufweist. Ein Bericht in „Musik und Kirche" verzeichnet für das Jahr 1958 bereits ca. 160 Mitglieder - diese Zahl ist ungefähr konstant geblieben. Auch damals hatte er schon eine Teilung in einen großen und einen kleinen (Auswahl-) Chor vorgenommen. Und auch die Jugendlichkeit des Chores - überwiegend studentische Sängerinnen und Sänger - ist sein herausragendes Merkmal bis heute geblieben. Damit war auch eine musikalische Alternative zur Stadtkantorei an St. Johannis entstanden, in der sich eher die alteingesessenen Göttinger Bürger musikalisch betätigen. So sagte man wenigstens und empfand sich durchaus als kirchenmusikalische Konkurrenz.

Jendis' Heimat war das Bergische Land. In Schwelm bei Wuppertal wurde er am 4. April 1913 geboren. Schon während seiner Schulzeit bekam er Klavierstunden und spielte zum Sonntagsgottesdienst das Harmonium der Dorfkirche. Ein Kirchenmusikstudium nach dem Abitur lag damit nahe. Sein Studium an der Kirchenmusikschule Berlin-Spandau führte ihn mit Hugo Distler zusammen, dessen ,Totentanz" er 1968 szenisch mit dem Jungen Theater in Göttingen aufführte. An der Staatlichen Hochschule für Musik in Berlin hatte er berühmte Lehrer, von denen Kurt Thomas zeitlebens sein Vorbild war. Zehn Jahre raubte ihm der zweite Weltkrieg, ehe er 1951 in Göttingen seine erste und einzige große Stelle antrat, wo an St. Jacobi bis dahin lediglich ein kleiner Gemeindechor existiert hatte.

Hans Jendis hat etwa fünf Jahre gearbeitet und gewartet, ehe er sich 1956 an Bachs „Magnificat" und Händels „Messias" heranwagte. Aber diese Anfangsjahre waren auch nach außen hin keineswegs unergiebig. Die lange Reihe seiner „Geistlichen Abendmusiken" begann er am 21. November 1951, seiner ersten öffentlichen Aufführung in Göttingen, mit Musik um Dietrich Buxtehude. Die Kritik schreibt von einer „übervollen" Jacobikirche, die - wie auf dem Plakat eigens vermerkt - geheizt war.

(Der Schreiber erinnert sich an einen überdimensionalen Kanonenofen in der vorderen linken Ecke des Kirchenschiffs, in dessen Nähe man gebraten wurde, dessen Abstrahlung aber gering war.) Natürlich betätigte sich Hans Jendis in diesem Konzert auch als Organist, eine Tätigkeit, die in seinen erfolgreichen Bemühungen um die Errichtung der neuen großen Ott-Orgel 1966 ihre Krönung fand. Schon hier sei angemerkt, daß Jendis lange Jahre Orgelrevisor für den Sprengel Göttingen der Landeskirche war, also praktisches Orgelkönnen mit Orgelwissen verband. Der GT Rezensent jenes ersten Jendis-Konzerts orakelte damals etwas blumig, aber - wie wir heute wissen - durchaus zutreffend:
„Daß an St. Jacobi nun durch Initiative Hans Jendis' ein sehr reger zweiter kirchenmusikalischer Ort geschaffen ist, darf ganz besonders begrüßt werden, zumal gerade der Chor, besetzt mit überwiegend jungen und frischen Stimmen, recht ausgewogen schon im Klanglichen, sich mehr und mehr zu einem wesentlichen Faktor herausbilden wird."

Die hier angesprochene „musikalische Gleichberechtigung" im nicht immer edlen Wettstreit der beiden großen Göttinger Kantoreien erwarb sich Jendis erst mit seiner ersten „großen" Aufführung, dem „Messias" von 1956, mit einer für die damalige Zeit solistischen Starbesetzung: Ingeborg Reichelt, Ursula Boese, Wilhelm Kaiser und Paul Gümmer. Mit Witz, Charme und Verschmitztheit fesselte Hans Jendis eben nicht nur 160 jugendliche Chorsänger an sich, sondern konnte für seine Aufführungen auch immer wieder große Gesangssolisten verpflichten. Innerhalb weniger Jahre folgten dann viele andere große Chorwerke, u. a. die Passionen und die h-moll-Messe von Bach, in nahezu zyklischer Abfolge.

Chorproben bei Hans Jendis waren nie langweilig. Mancher deftige Kommentar der Gesangsleistungen etwa einer Stimmgruppe tönte hinter dem Flügel hervor, auf dem Jendis begleitete, kaum sichtbar, denn er war von kleinem Wuchs, aber unüberhörbar. Widerworte duldete er durchaus, so daß es oft zu recht markigen Dialogen kam, die aber meist von Jendis selbst mit einem guten Witz entschärft wurden. Denn auf den Mund gefallen war der von Berlin geprägte kleine Jendis keineswegs. Manches Wort mag härter geklungen haben, als es von ihm gemeint war, denn er konnte sich, wenn auch nicht cholerisch, heftig über etwas ereifern. Aber seine ihm treu ergebenen Chorsänger kannten ihren Kantor, und anders Gesonnene gab es bei Jendis nicht. Wer mit seiner Art nicht zurechtkam, ging gleich zu Doormann in die Stadtkantorei. Vom 7 Januar 1965 an wolle er „mit unerbittlicher Strenge” (Sperrung und Unterstreichung von Jendis selbst) darauf achten, daß die Proben ganz regelmäßig besucht und alle diejenigen eliminiert (= entfernt) werden, die die Fortschritte in der Probenarbeit durch notorisches Fehlen verhindern", schreibt der Kantor an seinen Chor. Von solchen Drohbriefen gibt es mehrere, denn Hans Jendis hat äußerst sorgfältig über alles, was seine Tätigkeit und Aufführungen des Chors betraf, Archiv geführt, eine Quelle, die schon jetzt einen gewissen dokumentarischen Wert hat. Der Schreiber kann sich übrigens nicht erinnern, daß einer jener notorischen Bummelanten jemals „eliminiert (= entfernt)" worden wäre. Aber das heißt nicht, daß Hans Jendis dadurch an Respekt verloren hätte. Er hatte letztlich andere Mittel, Autorität zu sein, und nicht die schlechtesten. Das „nachchorische Bier" im Lokal „Altdeutschen" mit anschließender Bratwurst bei Mall's in der Roten Straße fand nie ohne den Kantor statt, der sich auch nicht zu schade war, sich selbst gelegentlich zum Gegenstand allgemeiner Heiterkeit zu machen. Es gab nicht wenige Sängerinnen und Sänger, die für „ihren" Kantor durch dick und dünn gegangen wären. Eine Sängerin von damals erinnert sich im Rückblick:

“Zu meiner Zeit wurde in der Kantorei die Geselligkeit sehr groß geschrieben. Die Hauptsache war zwar das Erarbeiten und Aufführen von musikalischen Werken, aber es wurde auch viel gefeiert. Insider wußten, bei Doormann ist der musikalische Anspruch höher, aber bei Jendis geht's dafür lustiger zu."

Lustig zu ging es auf jeden Fall auch bei den Chorreisen, die Hans Jendis, dessen Kontaktfreudigkeit eine seiner Stärken war, mit Schwung und Elan organisierte. So wie mancher sich im Rückblick an seine Schulzeit kaum noch an den Unterricht, wohl aber an die amüsanten Klassenfahrten erinnert, so leben viele ehemalige Jendissänger bei Erzählungen von den meist ins Ausland führenden Chorreisen auf. Aber auch hier darf nicht der heitere Ton, der herrschte, für eine Lässigkeit des Kantors Jendis bei Konzerten gehalten werden. Hans Jendis konnte mit Extraproben, die anberaumt wurden, wenn es notwendig war, genauso unerbittlich sein, wie er nach Konzerten zu den übermütigsten Scherzen aufgelegt sein konnte. Dabei spielte es keine Rolle, ob man in einer französischen Kathedrale oder einer einfachen Holzkirche im Norden Lapplands gesungen hatte. Für die Chorsänger war es in jedem Fall eine bereichernde Erfahrung, unterschiedlichste Formen der Gastfreundschaft und auch sehr verschiedenartige Rezeptionsweisen ihrer Konzerte zu erleben: kritische Anerkennung in den musikalisch verwöhnten Musikzentren, rückhaltlose Bewunderung, ja fast andächtige Verehrung dort, wo Kirchenmusik außerhalb des Gottesdienstes und von künstlerischem Anspruch ein Ausnahmeereignis war. Jendis wird immer wieder bescheinigt, daß er einen vorzüglich singenden A-cappella-Chor geschaffen hatte, der anläßlich auswärtiger Konzerte oft dankbarer und wohlwollender aufgenommen wurde als manchmal im heimischen Göttingen. Elf Konzertreisen, vor allem nach Schweden und Frankreich, hat Jendis während seiner 27 Jahre an St. Jacobi organisiert, und schon die Kritiken der ersten (1960) sprechen eine eindeutige Sprache, die auch ohne Kenntnis des Holländischen verständlich ist: „St. Jacobi Kantorei, voorbeeld van koorzang" heißt es im Nieuwe Haagsche Courant, „St. Jacobi Kantorei was een openbaring" im Haagsch Dagblad, „Voortreffelijke koorzang door St. Jacobi Kantorei" aus Trouw. Daß es am Standort der Kantorei nicht immer so positive Besprechungen der Konzerte in der Presse gab, hatte mehrere Gründe. Geärgert haben sie Hans Jendis allemal, denn oft erscheinen sie gerade im kritischen Rückblick ungerecht, vor allem wenn die Rezensenten, was oft vorkam, zu diametral entgegengesetzten Auffassungen kamen, wie schon beim ersten öffentlichen Auftreten des Organisten Jendis in der Universitätsstadt:

„Hans Jendis, den wir ... zum ersten Mal hören durften, zeigte in zwei Orgelwerken von Dietrich Buxtehude eine gewandte Technik und eine Vorliebe für abwechslungsreiche und prächtige Klanggebung." ,,... neben denen sich der Organist Hans Jendis ... nur schwer behaupten konnte, zumal seine Registrierung ... jene letzte Plastik und Durchhörbarkeit ... vermissen ließ."
Zwar liegen unterschiedliche Beurteilungen derselben künstlerischen Leistung in der Natur der Sache, doch gab Hans Jendis zur Polarisierung von Meinungen offenbar mehr Anlaß als andere. Das lag an seiner fast zu Extremen tendierenden Grundnatur: Einer robusten Extrovertiertheit stand hohe Sensibilität, ja sogar Verletzbarkeit gegenüber, die Hans Jendis oft überspielte, so daß man ihn schon gut kennen mußte, um seine Betroffenheit wahrzunehmen. Physische Verfassung und psychisches Gestimmtsein klafften bei ihm auf seltsame Weise auseinander. Das äußere Erscheinungsbild war nicht das einer hochsensiblen Künstlernatur, denn Jendis' vielleicht auch nur zum Selbstschutz zur Schau getragene Vitalität war zunächst beherrschend. Er gab sich fast immer optimistisch, enthusiastisch, quirlig, von einer Behendigkeit, die man ihm auf den ersten Blick nicht zugetraut hätte. Ganz plötzlich konnte er auch sehr ernst und nachdenklich werden, nicht aber kleinmütig, denn das ließ seine auf Dur gestimmte Natur nicht zu. Oft vollzogen sich diese Übergänge sprunghaft, für das Gegenüber nicht immer leicht nachvollziehbar. Der bleibende Eindruck aber war der einer unkonventionellen Natürlichkeit und Direktheit, verbunden mit gewinnender Liebenswürdigkeit und Gutmütigkeit. Aus seinen Augen leuchtete der Schalk, manchmal auch eine Spur Durchtriebenheit. Jendis war ein Mensch, von dem man wußte, woran man mit ihm war, denn notfalls ließ er es einen unverblümt wissen, ohne daß man ihm auf Dauer gram sein konnte, ebensowenig wie er es war. Wenn man das Gegensatzpaar apollinisch - dionysisch zur Kennzeichnung künstlerischer Erscheinungsweisen hier überhaupt anwenden kann, so war Hans Jendis sicherlich mehr dem dionysischen Typus zugehörig, mit allen Vorzügen und Nachteilen, die jedes Extrem aufweist. Die Kritiker rühmen Konzerte „mit glutvollem Klang", bemängeln aber auch seinen „großzügigen musikalischen Duktus", der zu „einigen Unebenheiten ... in seinen in manchem gewiß noch zu vertiefenden Interpretationen" führen konnte. Selbst als seine Spannkraft gegen Ende seiner Laufbahn nachließ, trug noch immer seine Fähigkeit, andere zu engagiertem Musizieren und Singen zu begeistern, über manche Fährnisse in den großen Aufführungen hinweg. Und Jendis hatte es sich auch nicht leicht gemacht, was zu einer dritten Quelle kritischen Unmuts in mancher Konzertrezension führte: die Größe des Chores, quantitativ betrachtet.
Es mag ein Anreiz für jeden Chorleiter sein, einen kleinen und damit viel leichter auf elitäres Musizieren getrimmten Chor aufzubauen. Das musikpädagogische Konzept Hans Jendis' war anderer Art. So wie er den geselligen Umgang mit Menschen schon im allgemeinen schätzte, so wenig ließ er es sich durch häufige, aber oft auch unreflektierte Kritikerbemerkungen, der Chor sei wieder mal zu groß gewesen, was zu Mängeln im dynamischen Gleichgewicht und was dergleichen mehr ist, geführt habe, nicht nehmen, vielen und vor allem jungen Menschen den aktiven Zugang zu den großen Werken zu ermöglichen. Ihm ging durchaus nicht Quantität vor Qualität, aber er war insgesamt auf eine Breitenwirkung seiner Chorarbeit bedacht, was auch von einem treuen und seinerseits begeisterungsfähigen Stammpublikum honoriert worden ist. Dadurch, daß dieser Chor aufgrund seiner überwiegend studentischen Zusammensetzung einer hohen Fluktuation unterworfen war und es noch immer ist, war eine kontinuierliche Stimmpflege nur schwer möglich. Das ließ sicherlich nur eine begrenzte Vervollkommnung des Stimmmaterials zu, aber Hans Jendis war immer bemüht, diese Grenzen durch erhöhtes Engagement seinerseits und Entlocken der letzten Reserven auf Seiten des Chores zu sprengen. Fast immer ist ihm dies gelungen. Ganz sicher aber hat er vielen jungen Menschen, die zunächst vielleicht sogar nur auf der Suche nach sozialen Kontakten in einer fremden Stadt zum Chor stießen, Verständnis, meist auch Begeisterung für Musik vermittelt. Wenn hier das Lob des großen Chores gesungen wurde, so hat Jendis mit dem kleinen Jacobi-Chor, für den vor allem die Konzertreisen immer wieder Ansporn zur Erarbeitung eines breit gefächerten A cappella-Programms waren, viele in Göttingen selten gehörte Werke einstudiert. Das gilt vielleicht weniger für den ersten der drei Schwerpunkte, die Jendis sich gesetzt hatte, die frühbarocke Musik von Schütz, Schein und Buxtehude, die in seinen Göttinger Anfängen die Programme beherrschte. Später kam vor allem die Spätromantik eines Bruckner und Brahms dazu, zu der ja auch der Organist Jendis ein besonderes Verhältnis hatte. Große Bedeutung für die Göttinger Kirchenmusik aber hatte sicherlich Jendis' Vorliebe für die moderne Chormusik. Viele Werke, etwa von Johann Nepomuk David, Siegfried Strohbach, Zoltän Kodäly, Johannes Weyrauch u. a., hat mancher Göttinger in der Jacobi-Kirche zum ersten Mal gehört. Zahlreiche Uraufführungen seiner Werke durch die Jacobi-Kantorei erlebte der Göttinger Pastor und Komponist Dr. Ernst Arfken, gleichsam der Hauskomponist über lange Jahre hinweg.

Eine ganze Reihe von Göttinger Erstaufführungen fallen in die Jendis-Ära. Darunter sind Dietrich Buxtehudes Passionsmusik „Membra Jesu Nostri" am 30. März 1969 sowie Haydns Paukenmesse „Missa in Tempore Belli" am 6. Mai 1970. Jan Benders Johannes-Passion, 1958 entstanden, hat Jendis am 27. März 1959 sogar uraufgeführt.

Solche Glanzlichter der Chorarbeit gehören natürlicherweise an die erste Stelle einer solchen Berichterstattung. Darüber darf nicht vergessen werden, daß zum Chorleben unter Hans Jendis auch die Pflicht gehörte, etwa in Form der musikalischen Bereicherung des Sonntagsgottesdienstes. Jendis hat seine Sänger zum sonntäglichen Frühaufstehen erzogen, wie er auch ausgelassen mit ihnen gefeiert hat. Das waren keine Widersprüche für ihn. Diese „Kantoreifeten" hatten ein hohes Niveau, sie waren keine bloßen Tanzveranstaltungen, sondern gaben immer wieder Auftrittsmöglichkeiten für musikalische Kleinkunst, auch einmal außerhalb des kirchenmusikalischen Rahmens. Auch bei solchen Gelegenheiten wirkte Hans Jendis inspirierend, er konnte herzhaft lachen und unbeschwert mitfeiern, zu Fröhlichkeit ebenso anspornen wie zu disziplinierter musikalischer Gestaltung einer Bach-Motette. Es war immer eine ganze Skala von Gefühlsäußerungen, die Jendis so souverän wie die Manuale und Register seiner Orgel beherrschte.

Der Organist Hans Jendis ist fast ein Kapitel für sich. Es klingt ein bißchen nach Wunderkind, wenn man erfährt, daß Jendis als 16jähriger für jene Gemeinde, in der er das Harmonium spielte, die Disposition einer Orgel entwarf, obwohl er überhaupt keine Orgeln kannte. Wenigstens 1978 hat diese Orgel, die von Schuke mit zwei Manualen, Pedal, neun Registern und einer modernen elektrischen Traktur gebaut worden war, noch in Bergfelde existiert. Schon im Jahr seines Amtsantritts an St. Jacobi hat Jendis folgerichtig eine Denkschrift über einen vollständigen Neubau der Jacobi-Orgel mit ca. 60 Registern und mechanischer Traktur verfaßt. Als durch die Innenrestaurierung der Jacobi-Kirche zur 600-Jahr-Feier 1961 die Seitenemporen sowie die Orgelempore mit dem alten pneumatisch ausgelegten Instrument abgerissen wurden, erhielt die Göttinger Orgelbauwerkstatt Paul Ott den Auftrag zum Bau einer Orgel, die modernsten Tonvorstellun¬gen entsprechen sollte. Durch seine Mitwirkung an diesem Projekt hat sich Hans Jendis das vielleicht dauerhafteste Denkmal in dieser Kirche gesetzt. Er ließ es sich natürlich nicht nehmen, diese mit 58 Registern ausgestattete Orgel - eine der größten im südniedersächsischen Raum - selbst am 8. Mai 1966 mit einem Konzert einzuweihen, in dem er neben Buxtehude und Bach zwei seiner geschätztesten Orgelkomponisten vortrug, Reger und Liszt. Unmittelbar im Anschluß daran fanden die von ihm ins Leben gerufenen 1. Internationalen Orgeltage Göttingen mit sieben Konzerten statt. U. a gastierten Helmut Walcha, Heinz Wunderlich und Gaston Litaize, drei der bedeutendsten Organisten jener Jahre. Die im Zweijahresrhythmus auch heute noch an St. Jacobi stattfindenden Internationalen Orgeltage haben als feste Einrichtung im Göttinger Musikleben Hans Jendis, ihren Gründer, überdauert, Idee und Konzeption sind ihm zu verdanken. Wenn dies die spektakuläre Seite der Orgelaktivitäten von Hans Jendis ist, so soll darüber nicht eine Einrichtung vergessen werden, die, von ihm begründet, ebenfalls heute noch fortdauert: die „Orgelmusik an St. Jacobi". An fast jedem Freitag hatten und haben überwiegend junge Orgelspieler Gelegenheit, ohne den Druck des großen öffentlichen Auftritts ihr Talent einem kleinen Publikum vorzustellen. Die Zahl dieser Kleinkonzerte ist kaum noch festzustellen; Jendis hat selbst oft diesen kleinen, intimen Rahmen des Orgelspiels gesucht. Zu Beginn der 60er Jahre, als die Zahl der Aufführungen vor allem der großen Bach-Werke unter Hans Jendis zunahm, mag ihm die Idee gekommen sein, sich für die adäquate Umsetzung barocker Klangvorstellungen ein eigenes Orchester zu schaffen. Das Kammerorchester St. Jacobi ist eine dauerhafte musikalische Größe im kirchenmusikalischen Konzertleben Göttingens geworden; auch hier war Hans Jendis spiritus rector einer Einrichtung, die das Göttinger Symphonie Orchester entlasten half und auch häufig für Konzerte außerhalb Göttingens angefordert wird. Unter Hans Jendis kam es auch zu einer ersten Mitwirkung des Jacobichors an den Göttinger Händelfestspielen im Jahre 1961. Zwar ist diese Zusammenarbeit nicht unbedingt modellbildend geworden, denn in den letzten Jahren sind weitgehend ausländische Spitzenchöre und -orchester für die Festspiele verpflichtet worden. Aber ein interessanter Ansatz war es dennoch, denn mit der Jacobi-Kantorei wurde die vielleicht erste szenische Umsetzung eines Händel-Oratoriums, des „Samson",1963 in der Jacobikirche versucht. Auch wenn Hans Jendis „nur" den Chor einstudierte und damit im Hintergrund blieb, diese Aufführung, wie später auch die der „Semele", wurde weithin beachtet, wobei dem Chor gerade auch von der überregionalen Presse präzises und stilsicheres Singen attestiert wurde. Der wiederum von Hans Jendis einstudierte Chor erhielt sogar von der Schallplattenkritik hohes Lob, als von dem für die Händelfestspiele 1967 erarbeiteten Oratorium „Deborah" unter der Leitung von Günther Weißenborn für den Bärenreiter Verlag eine Einspielung gemacht wurde. Diese von der Jacobi-Kantorei aufgrund der vielen dramatischen Chöre auf weiten Strecken fast solistisch bestrittene Schallplattenaufnahme war seinerzeit die einzige dieses Oratoriums auf dem Plattenmarkt. Überblickt man die vielen Jahre des Wirkens von Hans Jendis an St. Jacobi, so ist man vor allem beeindruckt von der Vielfalt der Anstöße dieses rührigen Kantors. Nicht alles führte er dabei zur letzten Perfektion. Dazu war er innerlich oft zu unruhig, ja getrieben, zuletzt auch krankheitsbedingt, aber im Rückblick erscheint uns diese fruchtbare Unruhe als notwendiger Motor, um das bei seinem Amtsantritt bestehende kirchenmusikalische Vakuum zu füllen und ein gut organisiertes, sich personell immer wieder erneuerndes Kantoreileben zu schaffen.

Hans Jendis hatte mit Bachs „Magnificat" 1956 die Reihe seiner großen Aufführungen begonnen; mit diesem Werk wollte er sich im Herbst 1978 auch vom Göttinger Publikum verabschieden. Dazu ist es leider nicht gekommen; ein Schlaganfall zwang ihn kurz vor der Aufführung, aus seinem Amt auszuscheiden. Arwed Henking, sein designierter Nachfolger, mußte kurzfristig die Arbeit zu Ende führen. So ist Bachs Johannespassion am 19. Februar 1978 Jendis' letzte Aufführung geworden. Er hatte sie insgesamt siebenmal in Göttingen aufgeführt. Sechseinhalb Jahre hat Hans Jendis, weitgehend ans Krankenbett gefesselt, noch gelebt, ehe er am 14. Mai 1985 verstarb. Viele seiner ehemaligen Chorsänger, die z.T aus der Ferne anreisen mußten, sangen während des Trauergottesdienstes noch einmal für ihren auch heute noch unvergessenen Kantor Hans Jendis.

Die „Ära Jendis" war nach seinem Ausscheiden aus der öffentlichen musikalischen Tätigkeit und selbst nach seinem Tode nicht zu Ende. Jendis hatte das Glück gehabt, in seiner Frau Irmgard eine Stütze bei der Bewältigung der Organisationsaufgaben und eine Beraterin in künstlerisch-musikalischen Fragen zu besitzen. Von ihrer langjährigen Verbundenheit mit der Kirchenmusik profitierte der Chor bis zu ihrem frühen Tode im Jahre 1989. Nun sind es nur noch eine Handvoll Sänger, die, schon etwas angegraut, die lebendige Verbindung zwischen dem musikalischen Gestern eines Hans Jendis und dem immer noch blühenden Chor-und Kantoreileben unter Arwed Henking darstellen.

Siegfried Herbst

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